Quelle & Copyright: Tages-Anzeiger [Tages-Anzeiger - Wissen] vom 08.01.1999 http://tagesanzeiger.ch/archiv/99januar/990108/257594.HTM

Schmelzende Kleider

In Textilien eingearbeitete Mikrokapseln, deren Inhalt den Aggregatzustand verändern kann, wirken temperaturausgleichend.

Von Walter Jäggi

Phase Change ist die englische Bezeichnung für einen Wechsel des Aggregatzustandes, etwa vom festen in den flüssigen beim Auftauen eines Eiswürfels. In der Elektronik hat die Phase-Change-Technik Bedeutung bei der wiederbeschreibbaren Daten-CD, der DVD. Hier werden durch einen Laserstrahl die in einer besonderen Schicht der Platte gespeicherten Zeichen quasi verflüssigt und dann entsprechend den neuen Signalen wieder kristallisiert.

Ganz neu ist die Anwendung der Phase-Change-Idee in Textilien nicht, sie wurde bereits in der Raumfahrt zur Verbesserung der Isolationswirkung von Verkleidungsmaterialien realisiert. Aus der Luft- und Raumfahrtwelt kommt denn auch die amerikanische Firma Frisby, die diese Technik weiter entwickelt hat. Die Schweizer Textiltechnikfirma Schoeller in Sevelen (St. Galler Rheintal) hat nun begonnen, neuartige Gewebe mit diesem Phase-Change-Effekt zu produzieren (Handelsbezeichnung: Schoeller interactive mit ComforTemp). Mehrere Sportbekleidungshersteller wollen auf die Wintersaison 1999/2000 hin erste Produkte auf den Markt bringen.

Mal fest, mal flüssig

Phase-Change-Materialien kühlen bei eintretender Hitze, indem sie Wärme aus der Umgebung aufnehmen und in den flüssigen Zustand übergehen. Und sie wärmen bei eintretender Kälte, indem sie sich verfestigen und dabei Wärme abgeben. Kleidungsstücke, die solche Materialien enthalten, federn Kälte- und Wärmeschocks bei Aufwärm- und Abkühlphasen ab. Sie wirken temperaturausgleichend und glätten das Kleiderklima, auch wenn die Temperaturbedingungen - etwa bei gewissen Sportarten oder Arbeiten - extrem wechseln. Beim Aussteigen aus dem warmen Auto nimmt der Skifahrer in seiner Jacke eine tüchtige Portion Wärme auf den kalten Skilift mit. Ebenso später die bei der Abfahrt erzeugte Körperwärme, die ihm während der Verschnaufpause wieder zugute kommt.

Von den über 500 in Frage kommenden Materialien sind Paraffine ausgewählt worden. Sie werden in Mikrokapseln von wenigen Mikrometern (Tausendstelmillimeter) eingeschlossen, aus denen sie auch flüssig nicht entweichen können; das Kleidungsstück kann auch gewaschen werden. Die Kapseln werden in einer je nach Bedarf dickeren oder dünneren Schicht in das Laminatgewebe eingebaut.

Jacken, Schuhe, Sessel und Tapeten

Die neuen Verbundgewebe sollen in etwa einem Jahr bereits als Konsumgüter auf den Markt kommen. Auf den kommenden Sportmodemessen werden Snowboardstiefel und Tourenjacken, Skioveralls, -hosen und -anoraks lanciert; Reit- und Motorradbekleidung und Sitzmöbelbezüge sind in Vorbereitung. Hans-Jürgen Hübner, Direktor der Schoeller Textil AG, sieht darüber hinaus grosse Möglichkeiten bei Arbeitskleidern, aber auch ganz einfach im Modebereich. Die Mikrokapseltechnik wird ausserdem in verschiedene Richtungen weiter entwickelt. So liesse sich in Wohntextilien eine Art Feuerlöschfunktion einbauen, die bei bestimmten Temperaturen automatisch einsetzt. Bei Verletzten oder Frischoperierten liesse sich die Temperatur konstant halten. Hübner denkt sogar an Kleider mit Airbagwirkung als Schutz bei Stürzen oder an die Integration von Vitaminen, Medikamenten oder Parfüms in die Textilien.

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